L&Poe Journal #03
Norbert Lange
Variationen: Die Freiheit der Übersetzer
Letzten Monat bin ich, über Rosmarie Waldrops schönes Buch über den französischen Dichter Edmond Jabès, gestolpert über ein Zitat von Maurice Blanchot über das Übersetzen: »Alle Übersetzer leben von der Differenz zwischen den Sprachen, jede Übersetzung beruht auf dieser Differenz, selbst dann, wenn sie das perverse Ziel hat, diese zu beseitigen.«
Ich musste gleich an den Turmbau zu Babel denken. Ich denke oft an den Turmbau zu Babel, wissen Sie, eigentlich nie, ohne ihn mir als großes Glück vorzustellen. Die Geschichte erzählt von der Hybris, sich über Gott erheben zu wollen. Dieser bestraft den Bauherren, den König Nimrod, indem er ihm eine Fliege durch eines seiner Nasenlöcher in den Kopf krabbeln lässt. Dort schwirrt sie für 40 Tage, verdirbt ihm den Verstand und er verstirbt. Der Turmbau wird von Nimrods Nachfolgern aber weitergeschrieben (weitergetrieben), so dass Gott, bevor die Spitze des Gebäudes an den Himmel stößt, das an dem Turm bauende Volk letztendlich mit der Sprachenverwirrung bestraft. Das hatte ganz praktische Gründe, denn keiner auf der Baustelle sollte sich noch über den Bau verständigen können. Nicht auszudenken, auf welche Strafen Gott noch gekommen wäre, hätte es zu diesem Zeitpunkt schon Menschen gegeben, die als Übersetzer arbeiten. Doch welchen Segen stellt diese Strafe Gottes dar? Immerhin wären Übersetzungen ohne Sprachenverwirrung wohl gar nicht oder nur bedingt denkbar.
Ökonomisch ist so eine Sprachenverwirrung bei einem solchen aufwendigen Projekt wie dem Turmbau eine Katastrophe. Man muss sich nur vorstellen, welche zusätzlichen Kosten etwa bei der Vorbereitung der Fußball-WM in Katar hinzukämen und welcher Katzenjammer entstünde, wenn plötzlich beim Stadionsbau keiner des anderen Sprache sprechen könnte und selbst die Dolmetscher auf den verschiedenen Ebenen der Bauhierarchie hilflos wären. Das mag bei einem 150 Milliarden Euro schweren Projekt im Wüstensand dann auch keine wesentliche Rolle mehr spielen. Und die FIFA würde sowieso zum Anpfiff blasen, solange die Zahlen stimmen. Tore lassen sich auch nach einer Sprachenverwirrung zählen und über die Spielregeln war man sich zuvor schon einig. Aber, sich nicht länger über Begriffe wie Fairness und Verhältnismäßigkeit unterhalten zu können, über moralische Werte, weil man die Worte dafür nicht mehr verstehen kann … Hätte man dann ein Problem?
Solche Dinge lassen sich – in einem gewissen Sinn – mit Händen und Füßen darlegen, doch die Teilnehmer einer solchen Pantomime müssen sehr viel Geduld aufbringen. Selbst, wenn sie strahlend einander anlächeln zum Schluss, sie werden nie mit Gewissheit sagen können, dass sie sich verstanden haben. Jemand könnte sein Leben lang versuchen, die Handlungsweisen eines Begriffs wie Liebe in Gesten und Gesichtsausdrücken zu vervollkommnen, damit sie seinem Umfeld anschaulich werden. Er hätte seinen Kindern von allerhand willkommenen und befremdenden Situationen zu erzählen, auf welche Weise auch immer. Und am Ende wäre nach wie vor unklar, wie sie das finden.
Dementgegen, wie langweilig wäre es, wenn hier unter uns jeder dieselben Wörter und damit exakt dasselbe sagen würde? Ich bin so politisch wie die meisten Dichter, meine Empörung ist eine an ein Hobby grenzende Gewohnheit. Doch wenn ich an eine Sprachenverwirrung denke, springt mein Katastrophenmodus nicht an. Ich stelle mir allenfalls eine Krise vor, und dass diese sich verschärfen kann, sobald der Anspruch aufkommt, jeder solle dieselbe Sprache sprechen. Diese Vorstellung würde gesellschaftlich wohl einiges vereinfachen, wenn auch nicht auf unbedingt demokratische Weise. Hier kommt gleich die nächste Frage: Was wird geschehen, wenn die Sprachenverwirrten sich einigen sollen, welche Sprache sie fortan sprechen wollen? Immerhin gibt es nur Sprachenverwirrte, sie können sich nicht oder bloß unter ständigen Missverständnissen verständigen. Um die Differenz zwischen ihnen beizulegen, ist jeder von ihnen auf seine Variante der Sprachenverwirrung angewiesen, als für ihn einzig richtiger Denkart. Im Mythos entfernen sie sich an voneinander entfernte Orte und gründen eigene Gesellschaften, aus denen Völker und Nationen entstehen, die dann später erst recht Probleme machen werden.
Wie gut, dass nicht jeder ein Spindoctor ist. Wenn jeder aber als Interessenvertreter der eigenen Sprachenverwirrung auftritt, muss man sich die Frage stellen, was Verstehen dann noch ist? Welchen Sinn hätte die Information einer Mitteilung noch, außer den, von allen nicht verstanden zu werden, doch verstanden werden zu wollen? Es ist ein naiver Gedanke, weil der Vorrang von Affekten vor Fakten schon mal in einen Verstehensfuror entgleiten und zum Verlangen eskalieren kann, anderen seinen Willen aufzuzwingen. Später werden Kapitole gestürmt und Menschen auf öffentlichen Plätzen eingepfercht. Wenn Verstehen darin gipfelt, sich gegenseitig für verrückt zu erklären und aufeinander loszugehen, müsste man nicht denken, dass Aussagen weniger Gewicht haben als die Handlungsweisen, zu denen sie führen? Man bräuchte auf jeden Fall eher psychologisch als übersetzerisch geschultes Personal, um die Interessenlage umzukehren und begreiflich zu machen, dass es bei einer Differenz weniger darauf ankommt, verstanden zu werden, als verstehen zu wollen.
»Wo Leben und Eigentum bedroht werden, hören alle Unterscheidungen auf.« Aber wieso nicht diesen von Staats wegen konvervativen Satz umdrehen und es darauf ankommen lassen? »Wo Unterscheidungen aufhören, werden Leben und Eigentum bedroht.« Wieso sollte man, um langsam von meiner Turmbau-Metapher herunterzusteigen, Interesse haben an einer möglichst geringen Differenz und nicht stattdessen etwa weitere ihrer Möglichkeiten und Varianten erforschen? Wohlgemerkt, es geht um Unterscheidungen und nicht um Unterschiede. Übersetzer merzen Unterschiede nicht einfach aus, sie geben ihnen einen Twist, einen Dreh, der nicht selten auch die Vorstellung einer Übersetzung betrifft und diese vom Übersetzten unterscheidet. Sie gewöhnen einen an Differenz – ohne gegenüber Unterschieden gleichgültig zu machen. Sie erfinden möglicherweise sogar neue Sprachen und Verständnisweisen. Dürfen die das? Ich weiß es nicht, habe aber eine Tendenz und schlage vor, uns bei Nimrod für den Turmbau zu bedanken. Man trifft ihn bei Dante im Inferno, wo er in einer Mischung aus Hebräisch, Latein, Ungarisch (und welchen Sprachen noch) sagt: »Raphèl mai amècche zabì alm.« Wie man es betonen soll und was immer das heißt …
Übrigens könnte Dante selbst als Übersetzer gearbeitet haben: Er soll den Rosenroman von Guillaume de Lorris und Jean de Meung, statt in paarweise gereimten Achtsilbern, übersetzt haben in Sonetten. Jorge Luis Borges ließ seinen Pierre Menard den Don Quijote Wort für Wort neu schreiben, ohne eine einzige Stelle des Originals zu ändern. Ezra Pound übertrug mithilfe Ernest Fenollosas Notizen chinesische Gedichte und brauchte davon für eine englische Übersetzung manchmal zwei. Achim Wagner wählte zentrale Stellen aus dem Gedicht eines türkischen Dichters und kombinierte sie in einer Textcollage solange, bis daraus ein neues Gedicht entstand, das der nachgedichtete Autor quasi selbst geschrieben hat. Der Dichter bpnichol las ein Gedicht von Guillaume Apollinaire und übersetzte es im Abstand von Tagen mehrmals aus dem Gedächtnis. Anne Carson übersetzte Fragmente des vergessenen Dichters Stesichorus und rekonstruierte aus ihnen ihre »Autobiography of Red«. James Macpherson hat das altgälische Epos Ossian gar aus seiner Phantasie übersetzt. Bpnichol hat später für sein »Translating Translating Apollinaire« kryptographische Methoden angewandt, um das Original noch weiter zu verschlüsseln und gewissermaßen als Objekt zu kartographieren. Susan Howe sammelte Marginalien in Büchern sowie archivarische Paraphernalien und schrieb mit ihnen über sie Gedichte und Essays. Meret Oppenheim variierte Zeilen und sogar die Namen von Hans Arp, Henri Michaux und anderen in Anagramm-Gedichten. Jackson Mac Low, Schüler von John Cage, benutzte Computerprogramme, um Werke anderer Autoren (Djuna Barnes, Gertrude Stein, Ezra Pound) als Quelltexte einzuspeisen und mit einem Wort oder Satz als Matrize die Variationen neuer Texte und ganze Bücher zu generieren. Christian Bök hat ein Gedicht geschrieben und es von Gentechnikern in das Genom eines Bakteriums eintragen lassen, welches das Gedicht mit jeder Generation in eine wachsende Variantenzahl verwandelt. Weniger Aufwand machten die Centos byzantinischer Gelehrter, die Zeilen Vergils und anderer antiker Dichter kompilierten. Trobadore wie Arnaut Daniel paraphrasierten ganze Ovid-Passagen für ihre eigenen Zwecke. Shakespeare wurde so oft variiert, dass er verwechselt werden könnte mit sich. Fernando Pessoa variierte sich selbst in Heteronymen, die im Streit lagen und ästhetische Debatten führten. Kent Johnson gab Gedichte des Hiroshimaüberlebenden Araki Yasusada heraus, die eine Debatte über literarische Fälschungen anstießen. Thomas Chatterton hingegen erfand einen dichtenden Mönch aus dem 15. Jahrhundert und löste einen Skandal aus, der ihn das Leben kostete. Armand Schwerner dachte sich Tontafeln aus, übersetzte sie und erfand gleich den passenden Kommentator dazu. Jack Spicer übersetzte mit seinem Freund Federico dessen bislang unbekannte Gedichte für »After Lorca«. Jerome Rothenberg wählte Substantive und Verben aus eigenen Lorca-Übersetzungen, um seine »Lorca-Variations« zu schreiben. Er hat auch Lieder amerikanischer Ureinwohner in konkreter Poesie oder Lautpoesie übersetzt, um ihren improvisatorischen und rituellen Charakter zu unterstreichen. Louis Zukofsky schrieb mit seiner Frau Celia zusammen Verse auf Englisch, die annähernd klangen wie Catulls Verse auf Latein. Ernst Jandl übersetzte mindestens ein Gedicht von William Wordsworth, indem er deutsch klingende Worte des englischen Originals aufschrieb. Peter Manson kam so zu »The English in Mallarmé«. Man nennt es homophone Übersetzung und niemand vielleicht ist darin konsequenter gewesen als David Melnick, dessen »Men in Aida« die griechische Ilias im wahrsten Sinne des Wortes in ein homo-phones Epos verwandelt: »Men in Aida, they appeal, eh? A day, O Achilles!« Mit phonetisch und orthographisch sich ähnelnden Worten, »Falschen Freunden«, die eine assoziative, mehrsprachige Vielfalt aufdecken, arbeitet Uljana Wolf. Für ihren Essay über die postkoloniale Poetik von Theresa Hak Kyung Cha übersetzte sie einige von Chas Gedichten, deren Identitäten zwischen mindestens drei Sprachen wechseln. Charles Bernstein spricht vom Homomphone Sublime. Er versteht Übersetzen als Weiter- und Umschreiben, Wreading sagt er dazu. Als lesendes Schreiben bzw. schreibendes Lesen lässt sich auch die Arbeit des Übersetzerkollektivs Versatorium verstehen, das etwa Texte Bernsteins auf viele spielerische Weisen ins Deutsche gebracht hat. Oskar Pastior ist immer sprachverspielt gewesen und hat etwa Baudelaires »Harmonie du soir« ausgefächert in »43 intonationen«. Mathias Traxler übersetzte Álvaro Seiças portugiesische Gedichte, mal mit einem Französisch-Wörterbuch, mal mit Vergils Aneis und einem Aufnahmegerät in Musikstücken und Sprechpartituren. Christian Hawkey sagt, er hat Trakl-Gedichte in mit Regenwasser gefüllten Einmachgläsern verrotten lassen, um sie danach zu übersetzen. Emmanuel Hocquard machte Übersetzungen von den Gedichten in Michael Palmers »Sun«, die dieser wiederum in Gedichte übersetzte, die Hocquard nun erneut zu übersetzen an der Reihe wäre, würde er noch leben. Doch das muss nichts heißen. William Butler Yeats hörte auf die Stimmen, die seine Frau als Medium kontaktierte, und übersetzte deren Äußerungen in Gedichte. James Merrill und sein Mann David Jackson benutzten für eine ähnliche Korrespondenz mit den Toten ein Ouija-Board. Auch, wenn es manchmal nicht danach aussieht, die Freiheit der Übersetzer ist grenzenlos.
Januar 2022